Kapitel 2 

Mythos OTRAG-Rakete

In den Nachkriegsjahren stellt sich in Deutschland bald eine wichtige Frage: Ist Raumfahrt ein nationales Projekt oder ein europäisches? Zunächst fährt die Bundesregierung in dieser Frage zweigleisig. Wobei der Handlungsspielraum für die Entwickler und Ingenieure sehr eng ist: Als Folge des 2. Weltkriegs ist in den 1955 geschlossenen Pariser Verträgen von den Alliierten verfügt, dass in Deutschland keine Raketen konstruiert werden dürfen, die einen größeren Durchmesser als 27 cm haben. Außerdem sind auf deutschem Boden Flugtests verboten.

Und überhaupt: Durch den Mangel an Fachkräften hat die Bundesrepublik Deutschland einen Rückstand bei der Entwicklung in der Raketentechnologie. Dies macht sich Ende der 60er Jahre besonders bei der Entwicklung der europäischen Rakete „Europa“ bemerkbar, die vom australischen Woomera aus gestartet wird. Mehrfach scheitern die Tests daran, dass die von den Deutschen konstruierte dritte Stufe explodiert.

 

Um diesen Mangel zu beheben, tätigt die Bundesrepublik 1969, im Jahr der Mondlandung, eine Ausschreibung. Mit einem 3,4 Millionen DM – Forschungsauftrag versucht die BRD alternative Antriebsformen für die „Europa“-Rakete zu finden. 

Illustration einer OTRAG-Rakete 

Lutz Tilo Kayser – Zwischen von Braun und Voodoo

Einer der sich im Rahmen einer studentischen Arbeitsgemeinschaft an dieser Ausschreibung beteiligt ist der junge Lutz Tilo Kayser, ein Student Eugen Sängers. 

 

Kayser ist seit seiner Kindheit von der Raumfahrt begeistert. Sein Vater ist Chef der Südzucker AG und ermöglicht dem Sohn erste Experimente und unterstützt ihn finanziell bei der Errichtung eines ersten Raketenprüfstandes in Bad Cannstatt. 

Kayser gewinnt – neben Dornier und MAN – den Auftrag. Unterstützt von Kommilitonen entwickelt er eine Rakete, die mit einfachen Mitteln eine hohe Schubkraft erzielt. Der besondere Reiz seines Konzepts: Es ist in der Umsetzung extrem billig, eine Do-it-yourself-Rakete. Statt alle Teile neu zu bauen, greift Kayser auf bereits vorhandene Elemente aus anderen Anwendungsgebieten zurück: z.B. auf Stahlrohre, die für den Pipelinebau verwendet werden, aber auch – sehr zum damaligen Amüsement der Presse – auf einen VW-Scheibenwischermotor, um das Einspritzen des Treibstoffes in die Triebwerke zu regulieren.

Eine weitere Besonderheit ist der Antriebsstoff selbst: Hier setzt er auf eine Mischung aus der hochgefährlicher Salpetersäure und Dieselkraftstoff. Mit dieser Low-Cost-Idee schwimmt Kayser gegen den Strom der Zeit, denn im Wettlauf zu den Sternen scheuen weder Amerikaner noch Russen Kosten und Mittel, um den Wettkampf für sich zu entscheiden.


Lutz Kayser neben seiner Do-it-yourself-Rakete

Brennwerk-Versuche in Lampoldshausen

Im Rahmen dieses Forschungsprojekts veranstaltet das Team insgesamt 2000 Brennwerk-Versuche am Prüfstand P3 in Lampoldshausen, dem größten deutschen Raketenprüfstand überhaupt. Die größte Herausforderung bei diesen Tests ist die Tatsache, dass das Gemisch aus Salpetersäure und Diesel nicht stabil verbrennt. Schließlich finden die Ingenieure die Lösung: Indem sie das Gemisch verwirbeln, entsteht ein stabiler, konstanter Antrieb, der für einen gleichmäßigen Schub sorgt.


Die Bundesregierung ist zwar zunächst interessiert an dem Konzept, trifft aber Anfang der siebziger Jahre eine Grundsatzentscheidung, wonach sie die nationale Raumfahrt zu Gunsten der europäischen Entwicklung einstellt : So tritt Deutschland der 1974 von zehn europäischen Staaten gegründeten „European Space Agency“ (ESA) bei , die sich in den folgenden Jahren mit der Entwicklung der Ariane beschäftigt.I

Kayser gründet nun mit der OTRAG die erste private Raumfahrtgesellschaft. Ein Start-up, das zwar noch von studentischem Do-it-yourself-Gedanken geprägt ist, jedoch sehr rasch wachsen wird; auch Dank des damals noch existierenden Abschreibungssystems, das es Kayser erlaubt, rasch neue Geldquellen zu erschließen.Innerhalb weniger Monate sammelt die OTRAG von circa 1600 deutschen Aktionären 173 Millionen DM ein. Mit diesem Geld können die Aktivitäten im damaligen Zaire finanziert werden.

Drei Personen genügten um eine OTRAG-Rakete zusammenzubauen


Ob die OTRAG-Rakete tatsächlich zu einer billigen Transportrakete hätte werden können, ist bis heute nicht abschließend zu klären. Dazu hätten deutlich mehr Tests der Flugerprobung stattfinden müssen. 

Die OTRAG selbst rechnete bei Beginn der Tests in Zaire in den 1970er Jahren, dass die Entwicklung der ersten leistungsfähigen Rakete erst Mitte der 1980er Jahre abgeschlossen sein werde.


Sticker anlässlich des ersten Starts einer OTRAG Rackete

Modell der OTRAG Bündelungsrakete

Größenvergleich verschiedener Raketen