Kapitel 3 

Ein Weltraumbahnhof im Dschungel

Mitten aus dem kongolesischen Urwald ragt der 500 m hohe Kapani Tono, was in der Sprache der Eingeborenen so viel bedeutet wie „Gespaltener Hintern“. Die Interpretationen für diese sonderbare Bezeichnung gehen auseinander: Die einen führen den Namen auf die charakteristische Form des Bergmassivs zurück, die anderen auf das Gefühl, das man wohl nach dem strapaziösen Anstieg im Gesäß verspürt. 

Die deutsche Firma OTRAG erkor in den 1970er Jahren den „Gespaltenen Hintern“ als Startbasis für ihre Raketenexperimente und beförderte von hier mehrere Flugkörper in den afrikanischen Himmel. 

Seither ranken sich um die OTRAG viele Mythen und Legenden – für einige Raumfahrtbegeisterte gilt der Kapani Tono gar als „Heiliger Gral“ der Raketenbaugeschichte. 

 

Ob Cape Carnaveral oder der europäische Startplatz der Ariane-Rakete in Französisch-Guyana: Die meisten Weltraumbahnhöfe befinden sich in Nähe zum Äquator, damit die Raketen beim Start den Spinn der Erdrotation maximal mitnehmen können.Auf der Suche nach einem Startplatz tritt die OTRAG über einen Mittelsmann mit Mobutu Sese Seko in Kontakt, der sich 1965 in Zaire an die Macht geputscht hat. 

Der Kapani Tono. Unterhalb des Plateaus fließt der Luvua Fluss

In den ersten Monaten schläft das Team in Zelten

Später betreibt man sogar Landwirtschaft

Mobutu ist ein Diktator mit Schwäche für megalomanische Großprojekte und deutsche Technik. Wie die meisten Diktatoren begeistert er sich für teure Prestigeprojekte : Nahe seines Heimatdorfes errichtet er mitten im Dschungel den Palast Kawale, eine Art kongolesisches Versailles. Und er veranstaltet gerne Groß-Events wie 1974 den „Rumble in the Jungle“ zwischen Cassius Clay und Georg Forman.


Besonders aber träumt Mobutu von der Raumfahrt: So hat er als einziges afrikanisches Land die Mitglieder der ersten Mondmission in Zaire empfangen und mit dem „Orden des Leoparden“ ausgezeichnet. Nun hofft er gemeinsam mit der OTRAG eine erste afrikanische Rakete zu zünden. Es wäre eine Win-win-Situation für alle: Die OTRAG könnte ihre Raketen testen, der geltungssüchtige Diktator sich als Player gerieren, der Afrika in den Weltraum führt. Nach einem nur zwanzig minütigen Gespräch ist Mobutu einverstanden. Kayser stellt Mobutu in Aussicht, mittels der OTRAG-Rakete Satelliten in den Himmel zu schießen. So könne er Kongo, das größte zentralafrikanische Land, besser kontrollieren.

Also verpachtet er der OTRAG ein Gebiet, unterhalb des Luvua-Flusses mitten im Dschungel gelegen, das die Größe der damaligen DDR hat. Für 50 Millionen DM erhält die OTRAG die völligen Nutzungsrechte über das Land und „Immunität gegen jegliche gerichtliche Verfügungsgewalt“. So hat die Gesellschaft beispielsweise das Recht, nach Bodenschätzen zu schürfen und sogar die Bevölkerung umzusiedeln.

Innerhalb weniger Wochen entsteht in einem logistischen Kraftakt eine eigene Raketenbasis auf dem Felsplateau des Kapani Tono. Die nächst größere Stadt ist 400 km entfernt, der Weg dahin mühsam. Deshalb muss zunächst eine Landebahn für Flugzeuge gebaut werden. Anfänglich schläft das auf rund 40 Mann angewachsene Team in Zelten. Bald entsteht jedoch eine eigene Siedlung. Unter Anleitung des Münchner Architekten Helmut Borcherdt bauen hunderte Einheimische mitten im Urwald Häuser mit norddeutschen Rieddächern, sanitäre Anlagen sowie ein Restaurant mit einem großen Gemeinschaftsraum. Borcherdt wird darüber später in seinen Memoiren schreiben: „Es ist vielleicht nicht einmal übertrieben, wenn ich behaupte, dass dieses Projekt am hochgestreckten Hintern das seltsamste und nutzloseste auf der ganzen Welt war“.


Der Startturm der OTRAG-Rakete (1978)

Das Kontrollzentrum

Auch ein Bäcker, ein Gärtner und ein Metzger sorgen für das Wohlergehen der Mannschaft. Es ist eine moderne Robinsonade, mitten im Dschungel: Das Camp ist auf Autarkie ausgerichtet; man betreibt sogar Landwirtschaft. „Es war wie im Garten Eden“, so einer der Mitarbeiter„mit drei bis vier Ernten pro Jahr“. Geld ist in Hülle und Fülle vorhanden. Und auch bei der OTRAG verfügt man über die typische Start-up-Mentalität: „Geht nicht gibt’s nicht!“ 

 

Eine besondere Herausforderung ist die Tatsache, dass die Raketen mit Salpetersäure angetrieben werden. Der Transport dieser Säure unterliegt hohen Sicherheitsauflagen. So darf die Lufthansa beispielsweise nur einen Liter pro Flug transportierten. Da die OTRAG jedoch mehrere tausend Liter davon benötigt, beschließt die Firma kurzerhand eine eigene Transportgesellschaft zu gründen. Sie kauft zwei alte englische Transportmaschinen mit Doppelrumpf und überträgt ihrem Anwalt Gerhard Brunner die Geschäftsführung der neu gegründeten ORAS, die „OTRAG Range Air Service“. Die beiden Flugzeuge des Typs Argosy sind dafür ausgelegt, jeweils drei Container à 1200 Liter (!) Salpetersäure zu liefern. 


Das Testgelände heute

40 Jahre nach den Raketentests der OTRAG liegt das gesamte Areal des ehemaligen Weltraumbahnhofs brach. Nachdem General Mobutu weitere Tests im April 1979 untersagte, unternahm Lutz Kayser zwar noch einige Versuche, die Anlage auf dem Kapani Tono aufrecht zu erhalten und versuchte Mitte der 1980er Jahre sogar, sie in ein Ferien-Ressort umzubauen. Doch aus diesen Plänen wurde nichts und so verfielen Gebäude und Startplatz. Heute sind nur noch einige Ruinen übriggeblieben.


Lageplan des OTRAG-Geländes